Ein amerikanischer Präsident liegt tot im Hotelbett – früher keine weltbewegende Tragödie (2024)

Im August 1923 verstarb Warren G.Harding als überforderter Präsident im Amt. Was damals mit beschränkten medizinischen Mitteln fahrlässig riskiert wurde, könnte heute verheerend sein. Ein überaltertes Washington muss sich nach der nächsten Präsidentenwahl auf etwas gefasst machen.

Ein amerikanischer Präsident liegt tot im Hotelbett – früher keine weltbewegende Tragödie (1)

Im Sommer 1923 ist alles simpler, unaufgeregter und wenig katastrophenorientiert. Noch weit in der Zukunft liegen ein 24 Personen umfassender medizinischer Stab im Weissen Haus und die stets in Bereitschaft stehenden Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen. Es gibt noch keine Air Force One, in der sich für den Notfall ein voll ausgerüsteter OP-Raum befindet.

Da bewegt sich Präsident Warren G.Harding mit einem Sonderzug durch das riesige Land, auf einer Reise voller Anstrengungen und ohne adäquate medizinische Betreuung. Die Klimaanlage hat sich noch nicht durchgesetzt. Der Leibarzt Charles Sawyer, ein Absolvent eines Homöopathen-Colleges, der nie ein Medizinstudium absolviert hat, begleitet den Präsidenten auf dieser Reise ohne Wiederkehr.

Ein Charmeur nach dem Krieg

Harding steht in der Mitte seines dritten Jahres im Amt. Er ist gewählt worden, weil das Motto seiner Partei, der Republikaner, drei Jahre zuvor einer deutlichen Mehrheit der Wähler aus dem Herzen gesprochen hat: «Zurück zur Normalität.» Die aus europäischer Sicht vergleichbar kurze, aber entscheidende Teilnahme der USA am «Grossen Krieg» von April 1917 bis zum Waffenstillstand im November 1918 hat schnell zur Desillusionierung geführt. Die moralinsauren Phrasen von Präsident Woodrow Wilson stossen immer mehr Amerikanern übel auf. Man sehnt sich nach Bodenständigkeit und Allzumenschlichem, kleine liebenswerte Fehler inkludiert.

Harding bedient diese Sehnsucht perfekt. Er hat sich hochgearbeitet und schon als junger Mann eine eigene Zeitung erworben, den «Marion Star» in seiner Heimatstadt Marion im Gliedstaat Ohio. Von freundlichem Naturell, ist Harding fast überall beliebt. Er arbeitet hart, hat aber auch seine Freuden: Er geniesst Pokerrunden mit alten Kameraden, einen guten Drink und vor allem das Beilager mit jungen Frauen (mit mindestens einer seiner Geliebten zeugt er ein aussereheliches Kind).

Ein Mann mit seinem Charme ist wie geschaffen für die Politik, und so zieht er für die Republikanische Partei 1914 in den Senat in Washington ein. Die Zeichen stehen nach Ende des Krieges auf Wechsel. Die Republikaner nominieren 1920 Harding zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Es ist eine historische Wahl mit der Einführung des landesweiten Frauenwahlrechts, und ein «lady’s man» wie Harding scheint der ideale Kandidat für diese neue Wählerschicht zu sein. Die Amerikaner und vor allem die Amerikanerinnen schicken Harding mit einem wahren Erdrutschsieg ins Weisse Haus.

Harding ist sich seiner eigenen Grenzen bewusst und spürt, wie sehr ihn das Amt überfordert. Er arbeitet für seine Verhältnisse hart, was man ihm bald ansieht. Der Dekan der Medizinischen Fakultät der Stanford-Universität orakelt schon bei Hardings Nominierung: «Vom medizinischen Standpunkt aus wird Harding die erste Amtszeit nicht überstehen. Man braucht ihn nur anzuschauen und sieht, dass er herzkrank ist und hohen Blutdruck hat!»

Anfang 1923 liegt Harding mit einer Grippe darnieder und wirkt über Wochen schwach, beinahe moribund. Sein Leibarzt Sawyer versteht von Herzkrankheiten wenig bis gar nichts. Hardings Befinden ist es gar nicht zuträglich, dass mit Beginn des Jahres 1923 Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung laut werden. Sowohl Innenminister Albert Fall als auch Justizminister Harry Daugherty geraten ins Fadenkreuz der Medien. Daughertys engster Mitarbeiter, Jess Smith, wird am 30.Mai in des Ministers Wohnung mit einer Schusswunde am Kopf gefunden, vermutlich suizidal beigebracht.

Ein Admiral bricht zusammen

Sichtlich angeschlagen, begibt sich Harding im Juni auf die seit langem geplante mehrwöchige Reise durch den amerikanischen Westen. Der Zug besteht aus zehn Waggons, im Salonwagen des Präsidenten mit dem Namen «Superb» kämpft ein Ventilator gegen die Hitze an.

Die zur Verfügung stehende Kommunikationstechnik besteht darin, dass beim Halt in einem Bahnhof für die Dauer des Aufenthalts eine Telefonleitung die Verbindung des Hardingschen Büros auf Rädern mit der örtlichen Telefonzentrale bildet. Während der Fahrten durch die Getreidefelder von Indiana ist der Präsident verschiedentlich stundenlang von der übrigen Welt abgeschnitten.

Doch wo immer der Zug planmässig und wie in den lokalen Zeitungen angekündigt hält, ob an einer Bahnstation oder auf freiem Feld: Die Zuschauerzahlen sind gross, die Stimmung freundlich, und der Präsident kann sich entlang der Route an Tausenden amerikanische Fähnchen schwingenden Schulkindern erfreuen. Die Skandale von Washington haben sich noch nicht bis ins Kernland ausgedehnt.

In Colorado Springs bricht beim Dinner ein Gast, ein Admiral, zusammen. «Doc» Sawyer konstatiert kurz und bündig: «Er ist tot.» Kurz darauf erlangt der Admiral wieder das Bewusstsein, kann an die Tafel zurückkehren. Dass der Leibarzt des amerikanischen Präsidenten sich vor Publikum eine so groteske Fehldiagnose leistet, sorgt bei den Anwesenden offenbar nicht für Unruhe.

In Alaska verschlechtert sich Präsident Hardings Zustand dann dramatisch. Zu der inzwischen fast konstanten Müdigkeit und oft auch Atemnot gesellen sich Schmerzen im Oberbauch. Sawyers Diagnose: eine Lebensmittelvergiftung beim Verzehr von Krabben. Sawyers Therapie: Abführmittel. Im Präsidentensonderzug, bald nach Verlassen der Stadt Seattle, darf der junge Marinearzt Joel Boone, Sawyer als Assistent zugewiesen, endlich auch einmal den Kranken untersuchen, der rastlos in seinem Sessel sitzt und um Atem ringt. Zum ersten Mal seit Jahren senkt sich ein Stethoskop auf des Präsidenten Brust und zeigt Boone das unregelmässige Schlagen eines massiv vergrösserten Herzens an.

Günstiger Zeitpunkt

Als der Zug aus Seattle kommend in San Francisco eintrifft, geht Harding mit Mühe die Gangway hinunter, ein bereitstehendes Taxi bringt ihn umgehend ins Palace Hotel. Inzwischen ahnt selbst Sawyer, wie schlimm es um seinen Patienten steht. Der oben zitierte Stanford-Dekan, Ray Lyman Wilbur, wird ebenso hinzugezogen wie der bekannte San Franciscoer Kardiologe Charles M.Cooper.

Für die Experten besteht kein Zweifel an einer massiven Herzinsuffizienz. Die Ärzte geben über die nächsten Tage den Medien beruhigend klingende Bulletins heraus: «Der Präsident hatte den am meisten zufriedenstellenden Tag, seit seine Krankheit begann.» Harding selbst murmelt nur: «Ich bin so müde, so müde.» Am 2.August, um 19 Uhr 35, geht es zu Ende. Der Präsident liegt tot im Hotelbett.

Im fernen Vermont wird Vizepräsident Calvin Coolidge auf der väterlichen Farm (in der es kein elektrisches Licht gibt) im Schein einer Petroleumlampe zum 30.Präsidenten vereidigt. Sein Vater ist Notar und übernimmt diese Aufgabe. Die Nation trauert, geht aber weiter ihren Geschäften nach. Schliesslich, so wird es der neue Präsident präzise formulieren, gilt als nationales Credo: America’s business is business.

Warren Harding hat der Herztod vielleicht zum günstigsten Zeitpunkt ereilt. So bleibt ihm erspart, die Aufdeckung des Korruptionssumpfes in seiner Regierung und den Verlust des Ansehens seiner Präsidentschaft miterleben zu müssen. In den «presidential rankings», den Ranglisten der historischen «Grösse» amerikanischer Präsidenten, liegt er auf einem der letzten Plätze.

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Menetekel für heute?

Hundert Jahre nach Hardings Tod würde der plötzliche Ausfall der Führungsperson im Weissen Haus kaum absehbare Folgen haben. Das Amt des amerikanischen Präsidenten hat heute ein ganz anderes Gewicht. Gesundheitlich angeschlagen zu sein oder in einem hohen Alter zu stehen, kann die Handlungsfähigkeit der Weltmacht beeinflussen. So wird das Ableben Hardings zu einem Menetekel angesichts einer nach heutigen Umfragen möglichen Wahl im nächsten Jahr zwischen einem dann 81-jährigen Amtsinhaber Biden und einem 78-jährigen Herausforderer Trump.

Bei jener Wahl kommt dem Altersfaktor eine Bedeutung zu wie kaum jemals zuvor – vielleicht abgesehen von 1944. Damals hatte Präsident Franklin D.Roosevelt, wie Harding an Bluthochdruck und Herzmuskelschwäche leidend, erkennbar abgebaut. Sein neuer Vizepräsident Harry Truman musste kaum drei Monate nach der Vereidigung das Amt in Zeiten des Krieges übernehmen.

Dies kann auch in naher Zukunft der Nummer zwei auf dem Ticket drohen. Umso wichtiger wird die Bedeutung der über weite Strecken der amerikanischen Geschichte bespöttelten Vizepräsidentschaft. Amerika sollte genau darauf achten, wer den Platz einnimmt, der den sprichwörtlichen «einen Herzschlag vom Präsidentenamt» entfernt ist.

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